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Epheser 4,(1-6)11-15(16) | Pfingstmontag | 20.05.2024

Einführung in den Epheserbrief

Die aktuellen Fragen, die in der Exegese des Epheserbriefs behandelt werden, drehen sich vor allem das Verhältnis von Ekklesiologie und Christologie sowie um die Vorstellungen zur Eschatologie.

1. Verfasser

In der Exegese herrscht große Einigkeit darüber, dass der Epheserbrief nicht von Paulus verfasst wurde. Dagegen sprechen die von den authentischen Paulusbriefen abweichende eigene Sprachgestalt (z.B. die Vorliebe für überlange Sätze) sowie theologische Weiterentwicklungen, besonders in Christologie und Kosmologie (z.B. Christus, der das All zusammenfasst Eph 1,10), Soteriologie (Gott hat uns mit auferweckt und eingesetzt im Himmel in Christus 2,6), Ekklesiologie (die über die einzelne Gemeinde hinaus wachsende Kirche als Leib mit Christus als Haupt, 1,22) und die Bedeutung der apostolischen Tradition, die die Existenz der Kirche garantiert (2,20). Hinzu kommt die weitgehende Abhängigkeit des Eph vom (früheren) Kolosserbrief, bis hin zu wörtlichen Übernahmen. Der namentlich unbekannte Verfasser des Eph fühlt sich der paulinischen Tradition verpflichtet (z.B. 2,8) und will sie in seiner eigenen Zeit, vermutlich zwischen 80 und 90 n. Chr., und unter anderen Umständen erneut zur Sprache bringen. Auch der Aufbau des Briefes entspricht im Wesentlichen den authentischen Paulusbriefen, vor allem mit der Aufteilung in einen eher grundlegend-lehrhaften und einen daraus Konsequenzen ziehenden paränetischen Hauptteil. Ungewöhnlich ist aber das Nebeneinander einer ausführlichen Eulogie und Danksagung im Eingangsteil (1,3-14. 15-23) und das Fehlen von Grüßen am Schluss.

2. Adressaten

Der Eph ist nach 1,1 und der Briefüberschrift ein Schreiben an die Christen in Ephesus. Allerdings fehlt die Ortsangabe in 1,1 in den ältesten Handschriften, und es finden sich keinerlei nähere Angaben zu den Adressaten; persönliche Notizen oder Grüße fehlen, die Mahnungen bleiben allgemein. Konkrete Probleme, die die Abfassung erklären könnten, werden nicht angesprochen. Nach 1,15; 3,2f.; 4,21 scheinen sich Verfasser und Adressaten nicht einmal persönlich zu kennen. Dass die Empfänger in Ephesus beheimatet seien, geht aus dem Text nirgends hervor. Der Eph ist deshalb vielfach als Traktat, theologische Abhandlung oder auch als „Rundschreiben“ bezeichnet worden. Diese Auffassung hat wegen der Allgemeinheit des Schreibens viel für sich. Ein „situationsloses Schreiben“ ist Eph dennoch nicht, auch wenn wir seine Situation nicht mehr im Detail rekonstruieren können. Offensichtlich hat sich der Verfasser aber veranlasst gesehen, grundlegende Gedanken über die christliche Existenz und die Kirche aufzuschreiben und dabei besonders die Einheit der Kirche hervorzuheben. Die frühe Verbreitung des Schreibens im westlichen Kleinasien spricht dafür, dass die Adressaten hier zu suchen sind. Von daher lag die Provinzhauptstadt Ephesus als zugeschriebene Adresse nahe, nicht zuletzt  deshalb, weil Paulus selbst sich längere Zeit in der Stadt aufgehalten hatte.

3. Entstehungsort

Was für die Adressaten gilt, gilt auch für den Entstehungsort des Schreibens. Das westliche Kleinasien ist ein Entwicklungszentrum des frühen Christentums, wie z.B. die in Offb 2f. genannten Städte (darunter auch Ephesus) belegen. Vermutlich ist das Schreiben in diesem Umkreis entstanden. Dass der Verfasser den Kol gekannt, geschätzt und verwendet hat, unterstreicht dies (Kolossä lag etwa 170 km östlich von Ephesus).

4. Wichtige Themen

Theologie, Christologie, Kosmologie und Ekklesiologie sind wichtige Themen des Eph - und sie sind eng miteinander verbunden. Der Kosmos besteht aus zwei Räumen, Erde (4,9) und Himmel (1,3.10; 2,6). Im himmlischen Bereich befinden sich die Engel, die Äonen, die Mächte und Gewalten (1,21; 2,7), zum Bereich der Erde gehört alles Vorfindliche, hier hat der Äon dieser Welt seinen Ort (2,2), und der Weltherrscher regiert (6,12). In Christus und durch ihn ist aber alles, was im Himmel und auf Erden ist, „zusammengefasst“, (1,10), und es gibt nichts mehr, was Christus nicht unterworfen wäre (1,23). Dies gilt nicht zuletzt für Juden und Heiden, die durch einen „Zaun“ getrennt waren (2,14). Aber auch dieser Zaun ist durch Christus aufgehoben, Gemeinschaft und Einheit sind möglich geworden. In der Kirche wird dies erkannt und geglaubt. Insofern ist sie Christi Leib, Christus ist in ihr gegenwärtig, sie repräsentiert die „Fülle Christi“. Deshalb kann auch, was vor Christus Juden und Heiden voneinander schied, nicht mehr trennen (2,11-13). Durch Christus, durch sein Blut gehören beide gleichermaßen zum „Leib Christi“ und haben Zugang zum himmlischen Bereich (2,6.18); dies aber nicht im Gegensatz zur Welt, sondern im Blick auf die Welt und mit der Aufgabe, allen Menschen und kosmischen Mächten das Geheimnis Gottes zu verkündigen und vorzuleben (3,10; im Blick auf den Apostel 6,19f.).

Dies wird mit Hilfe verschiedener Bilder zum Ausdruck gebracht. Neben der Kirche als „Leib Christi“ wird sie auch als „Bauwerk“, in dem die Christen Wohnrecht haben, und als  „Tempel“ bezeichnet (2,19-22). Das Bauwerk ist jetzt schon existent (2,19f.), aber es wird auch noch daran gebaut, damit alle zur Erkenntnis des Sohnes Gottes kommen (4,11ff.). Im Rahmen der Haustafel wird das Verhältnis von Mann und Frau auf Christus und die Kirche gedeutet (5,25-32). Die verschiedenen Bilder zeigen, dass die Kirche nicht mit Sachstandsbeschreibungen zu erfassen ist, sondern als geglaubte Größe weit über ihre sichtbare Existenz hinaus reicht. Der Verfasser des Eph ist damit der erste christliche Theologe, der explizit eine Vorstellung von dem Phänomen Kirche entwickelt. Umstritten ist, ob der Eph damit die theologische Konzeption einer Universalkirche entwirft oder sich nach wie vor auf die Versammlung der Glaubenden bezieht, sodass die einzelnen Glaubenden im Blick bleiben. Beide Positionen sehen m.E. etwas Richtiges. Im Vergleich mit den unbestrittenen Paulusbriefen hat zweifellos bereits eine Entwicklung hin zur Kirche als einer die Ortsgemeinden überschreitenden Größe stattgefunden. Die Christen aller Gemeinden bauen gemeinsam an dem Bau weiter, der auf dem von den Aposteln und Propheten garantierten Fundament ruht und dessen Eckstein Christus ist (2,20). Die wachsende Zahl der Gemeinden führt aber auch zu Differenzen, und das macht die starke Mahnung zur Einheit verständlich (4,1-6). Christus ist das Haupt der Gemeinde, aber ist auch Herrscher über das  All (einschließlich aller gegenwärtig noch ungläubigen Menschen und überpersönlichen Mächte). Was in der Kirche schon erkannt wird, soll auch vor der Welt bekannt werden. Diesem Ziel dient die Einheit der Christen - und darauf liegt der Akzent, und (noch) nicht auf der Idee einer universalen Kirche im Sinne einer Heilsagentur.

Deshalb ist die Ekklesiologie auch nicht, wie oft vertreten wurde, das eine, zentrale Thema des Eph. Ohne die Christologie (und die damit verbundenen soteriologischen Aussagen) wären die Aussagen über die Kirche ihrer Grundlage beraubt. Was in der Kirche erkannt, geglaubt und von ihr in die Welt getragen wird, ist nicht in erster Linie eine Lehre von der Kirche, sondern ein Bekenntnis zu Christus (vor allem 1,3-14), der das ganze All zusammenhält. Ohne Christus als Eckstein und die apostolische Tradition (2,20) gäbe es die Kirche nicht. Ihre Aufgabe ist es, das von Christus erwirkte Heil für die ganze Welt zu verkündigen und durch ihr Handeln zu bezeugen.

Der ganze zweite Hauptteil des Eph und damit die Hälfte des Schreibens befasst sich mit der Lebensführung der Adressaten. Das hat Auswirkungen auf das Verständnis der Ekklesiologie. Gerade weil die Kirche das Geheimnis Gottes als Grundlage (1,10) und den Gottesgeist als Angeld hat (1,14), steht sie in der Gefahr, „geistlich abzuheben“ und sich über die Welt zu erheben (vgl. 2,8-10), die aber doch auch mit allem Drum und Dran von Christus zusammengehalten wird (1,10). Die umfangreiche Paränese ist deshalb die andere, notwendige Seite der ekklesiologischen Medaille. Die Lebenspraxis soll nicht nur dem Glauben der Christen entsprechen, sondern dazu helfen, den Menschenkindern (3,5) das Geheimnis Gottes zu erschließen.

Dass alles, was es im Himmel und auf Erden gibt, alle Menschen, alle Mächte und Gewalten, die von den Christen schon erkannte und geglaubte Erlösung in Christus ebenfalls erkennen und in das Gotteslob (1,3-14) einstimmen, steht freilich noch aus. Im Bild gesprochen: Der Leib Christi muss noch wachsen (4,15). Zwar sind die Christusgläubigen schon mit auferweckt und im Himmel eingesetzt (2,6), aber Vielen ist dieses Geheimnis noch fremd und unerschlossen, und Mächte und Gewalten kämpfen dagegen an (6,10). Insofern fehlt auch die Dimension der Zukunft im Eph nicht (formelhaft in 1,21). Es ist allerdings keine qualitativ andere und ganz neue Zukunft, sondern eine, die in Gottes Willen schon vor aller Zeit beschlossen ist und auf die die Christusgläubigen deshalb mit gutem Grund und fester Zuversicht hoffen können.

5. Besonderheiten

Das Schreiben ist mit dem Kol eng verwandt, und zwar im Blick auf den Gesamtaufbau (Eph 1-3 entspricht weitgehend Kol 1f., Eph 4-6 großenteils Kol 3f.) sowie den Textbestand und die Abfolge der einzelnen Aussagen; die Haustafeln sind vergleichbar (Eph 5,21-6,9; Kol 3,18-4,1) und es gibt etliche fast wörtliche Übereinstimmungen (z.B. Eph 1,1f. und Kol 1,1f.; Eph 6,21f. und Kol 4,7f.). Hinzu kommen große Ähnlichkeiten in theologischen Aussagen, vor allem zur Christologie (Christus als Haupt des Leibes = der Kirche 1,22; 4,15; 5,23; Kol 1,18; 2,19); zur Kosmologie (1,10.20-22) und zur bereits erfolgten Auferweckung der Christen (2,5.7; Kol 2,12f.; 3,1). Offensichtlich sind beide Briefe eng miteinander verwandt. Allgemein wird die literarische Abhängigkeit des Eph vom Kol angenommen. Für die Interpretation des Eph ist deshalb immer auch der Kol zu berücksichtigen.

Literatur:

  • Sellin, Gerhard: Der Brief an die Epheser, KEK, Göttingen 2008.
  • Lindemann, Andreas: Der Epheserbrief, ZBK NT 8, Zürich 1985.
  • Gese, Michael: Der Epheserbrief (BNT), Neukirchen-Vluyn 32022.

A) Exegese kompakt: Epheser 4,1-16

Von dem Abschnitt Eph 4,1-16 sind als Predigttext V. 11-15 ausgewählt und V. 1-6 und V. 16 als  Ergänzung ausgewiesen, V. 7-10 jedoch nicht. Aber auch diese Verse sind für das Verständnis der Predigtperikope wichtig. Ich gebe deshalb im Folgenden den gesamten Text 4,1-16 wieder.

1Παρακαλῶ οὖν ὑμᾶς ἐγὼ ὁ δέσμιος ἐν κυρίῳ ἀξίως περιπατῆσαι τῆς κλήσεως ἧς ἐκλήθητε, 2μετὰ πάσης ταπεινοφροσύνης καὶ πραΰτητος, μετὰ μακροθυμίας, ἀνεχόμενοι ἀλλήλων ἐν ἀγάπῃ, 3σπουδάζοντες τηρεῖν τὴν ἑνότητα τοῦ πνεύματος ἐν τῷ συνδέσμῳ τῆς εἰρήνης· 4Ἓν σῶμα καὶ ἓν πνεῦμα, καθὼς καὶ ἐκλήθητε ἐν μιᾷ ἐλπίδι τῆς κλήσεως ὑμῶν·

5εἷς κύριος, μία πίστις, ἓν βάπτισμα,

6εἷς θεὸς καὶ πατὴρ πάντων,

ὁ ἐπὶ πάντων καὶ διὰ πάντων καὶ ἐν πᾶσιν.

7Ἑνὶ δὲ ἑκάστῳ ἡμῶν ἐδόθη ἡ χάρις κατὰ τὸ μέτρον τῆς δωρεᾶς τοῦ Χριστοῦ. 8διὸ λέγει·

ἀναβὰς εἰς ὕψος ᾐχμαλώτευσεν αἰχμαλωσίαν,

ἔδωκεν δόματα τοῖς ἀνθρώποις.

9τὸ δὲ ἀνέβη τί ἐστιν, εἰ μὴ ὅτι καὶ κατέβη εἰς τὰ κατώτερα [μέρη] τῆς γῆς; 10ὁ καταβὰς αὐτός ἐστιν καὶ ὁ ἀναβὰς ὑπεράνω πάντων τῶν οὐρανῶν, ἵνα πληρώσῃ τὰ πάντα. 11Καὶ αὐτὸς ἔδωκεν τοὺς μὲν ἀποστόλους, τοὺς δὲ προφήτας, τοὺς δὲ εὐαγγελιστάς, τοὺς δὲ ποιμένας καὶ διδασκάλους, 12πρὸς τὸν καταρτισμὸν τῶν ἁγίων εἰς ἔργον διακονίας, εἰς οἰκοδομὴν τοῦ σώματος τοῦ Χριστοῦ, 13μέχρι καταντήσωμεν οἱ πάντες εἰς τὴν ἑνότητα τῆς πίστεως καὶ τῆς ἐπιγνώσεως τοῦ υἱοῦ τοῦ θεοῦ, εἰς ἄνδρα τέλειον, εἰς μέτρον ἡλικίας τοῦ πληρώματος τοῦ Χριστοῦ, 14ἵνα μηκέτι ὦμεν νήπιοι, κλυδωνιζόμενοι καὶ περιφερόμενοι παντὶ ἀνέμῳ τῆς διδασκαλίας ἐν τῇ κυβείᾳ τῶν ἀνθρώπων, ἐν πανουργίᾳ πρὸς τὴν μεθοδείαν τῆς πλάνης, 15ἀληθεύοντες δὲ ἐν ἀγάπῃ αὐξήσωμεν εἰς αὐτὸν τὰ πάντα, ὅς ἐστιν ἡ κεφαλή, Χριστός, 16ἐξ οὗ πᾶν τὸ σῶμα συναρμολογούμενον καὶ συμβιβαζόμενον διὰ πάσης ἁφῆς τῆς ἐπιχορηγίας κατ’ ἐνέργειαν ἐν μέτρῳ ἑνὸς ἑκάστου μέρους τὴν αὔξησιν τοῦ σώματος ποιεῖται εἰς οἰκοδομὴν ἑαυτοῦ ἐν ἀγάπῃ.

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Übersetzung

1 Ich ermahne euch nun, ich, der Gefangene im Herrn, ein Leben der Berufung entsprechend zu führen, mit der ihr berufen worden seid, 2 in aller Demut und Sanftmut, in Geduld, indem ihr einander in Liebe ertragt, 3 indem ihr euch eifrig darum bemüht, die Einheit des Geistes zu wahren in dem Band des Friedens: 4 Ein Leib und ein Geist, wie ihr auch berufen seid in einer Hoffnung eurer Berufung; 5 ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, 6 ein Gott und Vater aller, er über allen und durch alle und in allen ist.

7 Jedem aber von uns ist die Gnade dem Maß der Gabe Christi entsprechend gegeben worden. 8 Deshalb heißt es: Hinaufgestiegen in die Höhe hat er Gefangene gemacht, er hat den Menschen Geschenke gegeben. 9 Was aber meint „er ist hinaufgestiegen“ anderes, als dass er auch hinabgestiegen ist in die tiefen Teile der Erde? 10 Der hinabgestiegen ist, ist derselbe, der hinaufgestiegen ist über alle Himmel, damit er das All erfülle. 11 Und (eben) dieser hat er gegeben die einen als Apostel, die als Propheten, die als Evangelisten, die als Hirten und Lehrer, 12 zur Ausrüstung der Heiligen zum Werk des Dienstes, zum Aufbau des Leibes Christi, 13 bis wir alle gelangen zur Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes, zum vollkommenen Mann, zum Maß der Reife der Fülle des Christus, 14 damit wir nicht mehr Unmündige sind, von Wellen hin- und hergeworfen und umhergeweht von jedem Wind der Lehre in dem Spiel der Menschen, in Verschlagenheit zur Verführung des Irrtums, 15 sondern die Wahrheit in der Liebe sagend in allem hinwachsen zu ihm, der das Haupt ist, Christus, 16, von dem aus der ganze Leib verbunden ist und zusammengehalten wird durch jedes unterstützende Gelenk (wörtlich: durch jedes Gelenk der Unterstützung), und entsprechend der Kraft, die jedem einzelnen Teil zugemessen ist, das Wachstum des Leibes bewirkt zum eigenen Aufbau in Liebe.

1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung

V. 13 εἰς ἄνδρα τέλειον: Die auffällige Wendung vom „vollkommenen Mann“ hat verschiedene Deutungen hervorgerufen (der Erwachsene; bei Philo der Mann, der die Tora hält; eine  Bezeichnung für Christus), dies umso mehr, als in 2,15; 4,24 (vgl. Kol 1,28) vom „neuen“ bzw. „vollkommenen Menschen“ (ἄνθρωπον τέλειον) die Rede ist. In 4,13f. sind der „vollkommene Mann“, die Mündigkeit (ἡλικία) und die Unmündigkeit (ἵνα μηκέτι ὦμεν νήπιοι) verbunden, sodass sich mythische oder philosophische Spekulationen erübrigen. Es geht um die Einheit des Glaubens und die vollkommene Erkenntnis des Sohnes Gottes, die mit dem Bild des „vollkommenen Mannes“ unterstrichen wird.

V. 13 εἰς μέτρον ἡλικίας: ἡλικία kann das Lebensalter bedeuten, dann auch das Zeitalter, die Generation, schließlich die Körpergröße, die Statur. Wegen des Gegenbildes der Unmündigkeit ist das Wort hier mit „Reife“ wiedergegeben.

V. 14 πρὸς τὴν μεθοδείαν: Das Wort kommt im NT nur hier und in Eph 6,11 vor. An beiden Stellen ist es durch die Zufügung τῆς πλάνης bzw. τοῦ διαβόλου negativ konnotiert, sodass die neutrale Bedeutung „Technik, Methode“ ausscheidet. Es geht um Verführung zum Irrtum bzw. „Ränke des Teufels“.

V. 16: ἁφή ist die Verbindung, die Sehne, σύνδεσμος das Band, die Verbindung, συμβιβάζω bedeutet  zusammenbringen, zusammenhalten, ἐπιχορηγέω unterstützen und nähren. Die Worte verweisen übereinstimmend auf einen medizinischen Kontext, der durch die Leib-Metaphorik hervorgerufen ist.

2. Literarische Gestaltung

V. 11-16 sind im Griechischen ein einziger Satz und insofern typisch für den parataktischen Stil des Eph, der vielfach Partizipien verwendet und ähnlich lautende Worte wiederholt. Die Komplexität des Satzes in V. 16 hat außerdem einen literarischen Grund: Der Verfasser hat Kol 2,19 als Vorlage benutzt, das Material aber dem jetzigen Kontext angepasst. Der Kol wendet sich gegen Meinungen, die seiner Auffassung nach „nicht am Haupt festhalten“. Von der Abwehr solcher Meinungen ist im Eph konkret nichts zu spüren. Zwar klingen in V. 14 Täuschungsversuche von Menschen an, aber die Formulierung ist stereotyp und beschreibt abweichende Meinungen sehr allgemein. Konkrete Gegner sind nicht im Blick. Der Schwerpunkt liegt vielmehr auf dem Aufbau des Leibes Christi (V. 12) und dem „Hinwachsen“ zu Christus als dessen Haupt (V. 15.16). Dieses Ziel wird mit verschiedenen Wendungen umschrieben: Einheit des Glaubens, Erkenntnis des Sohnes Gottes, vollkommener Mann, Reife der Fülle des Christus (V. 13), Wahrheit und Liebe (V. 14.16).

3. Literarischer Kontext

Die Abgrenzung der Predigtperikope ist problematisch. Eph 4,11-15 gehören zum größeren Abschnitts  4,1-16, der am Beginn des paränetischen Briefteils die Einigkeit im Geist als Grundlage für die folgenden Mahnungen hervorhebt (4,1-6). Dem entspricht, dass allen Christusgläubigen die Gnade „nach dem Maß der Gabe Christi“ gegeben ist (V. 7); dieser Gedanke ist in V. 16 noch einmal aufgegriffen (die Kraft, „die jedem Glied zugemessen ist“). V. 11-14 heben zwar leitende Aufgaben und ihre Bedeutung für das Wachstum der Kirche hervor; V. 15 betont aber, dass jeder Teil des Leibes an diesem Wachstum auf das Haupt hin beteiligt ist. Auf V. 1-7.16 sollte man deshalb aus exegetischen Gründen nicht verzichten. Der Satzbau unterstreicht das. Καὶ αὐτὸς V. 11 verweist zurück auf Christus und das, was in V. 9f. über ihn ausgesagt ist. Dasselbe gilt für ἐξ οὗ am Anfang von V. 16, und die Fortsetzung der Partizipien von V. 15 in V. 16. Greift man nur V. 11-15 heraus, liegt die Betonung stark auf den Ämtern und ihrer Funktion, die sie für das „Wachstum“ haben.

Auch V. 7-10 sind für das Verständnis von V. 11-16 wichtig; sie dienen als Voraussetzung, insbesondere die Aussage in V. 10, dass Christus nach seinem Sieg über Mächte und Gewalten das ganze All erfüllt. Als Herrscher über allem hat er „den Menschen Gaben gegeben“. Diese eigenwillige Interpretation von Ps 68,19f. (dort ist es Gott, der Gaben von den Menschen empfängt) fügt sich gut in die Vorstellung des Eph von der Kirche ein: Nach dem „Maß der Gabe Christi“ sind alle in der Kirche mit Gnade beschenkt. Nach V. 11f. haben dann Apostel, Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrer die Aufgabe, die Gläubigen für ihren Dienst auszurüsten. Wichtig ist aber, dass nach 4,16 alle dem Wachstum der Kirche dienen. 4,11ff. sind deshalb keine ausschließliche, sondern eine exemplarische Aufzählung. Auf jeden Fall ist klar: Sich bei der Interpretation nur auf V.11-15 zu konzentrieren, wäre eine Verkürzung, weil dann die Aussage auf bestimmte Träger der Gnade eingeengt würde. V. 16 sollte auf jeden Fall,  4,1-10 zumindest als gedanklicher Hintergrund mit berücksichtigt werden.

4. Schwerpunkte der Interpretation

Nach 2,20 bilden die Apostel und Propheten das Fundament der Kirche und Christus den Eckstein (nicht den Schlussstein im Gewölbe), der dem ganzen Bau (und damit auch den Aposteln und Propheten) Maß und Richtung gibt (Sellin, 238). Apostel und Propheten legten die Grundlage der Kirche in der Anfangszeit, in der Gegenwart des Eph sind es die Evangelisten, die Hirten und Lehrer, die die Kirche leiten. Vermutlich handelt es sich bei den Evangelisten um überörtliche Verkündiger, bei den Hirten und Lehrern um Ämter vor Ort, wobei eine genaue Differenzierung kaum möglich ist. Dass die in anderen frühchristlichen Schreiben genannten Aufseher, Diakone und Presbyter (vgl. Phil 1,1; 1Tim 3,2.8.12; 5,1f.17.19; Tit 1,5.7) hier nicht genannt sind, ist auffällig, rechtfertigt aber nicht die Annahme, dass eine episkopale oder presbyterianische Ordnung ausdrücklich abgelehnt werde. Es geht  nicht darum, bestimmte Ämter und Aufgaben genau voneinander abzugrenzen. Die Aussage ist vielmehr: Christus selbst hat diese Ämter (und damit alles Notwendige) „gegeben“, damit alle Christen für ihren Dienst ausgerüstet und befähigt werden. Der gemeinsame Dienst zielt auf den Aufbau des Leibes  (V. 12). Das Bild weist zurück auf 2,19-22. Zum Bau der Kirche, zum „heiligen Tempel“  sollen alle Christen beitragen. Diese dynamische Dimension der Kirche ist dem Eingangsabschnitt der Paränese angemessen. Das „volle Maß der Fülle Christi“ ist in der Gegenwart offenbar noch nicht gegeben. Es wird in mehreren Wendungen umschrieben: Es geht um die „Erkenntnis des Sohnes Gottes“ und Gottes selbst (vgl. 1,17), die  gegenwärtig aber noch nicht „bei allen“ vorhanden ist (vgl. das betonte μέχρι καταντήσωμεν οἱ πάντες am Anfang; eine andere Interpretation wäre: die Einheit des Glaubens ist noch nicht erreicht; dagegen spricht aber, dass von abweichenden Meinungen im Eph nirgends die Rede ist); das Bild vom „vollkommenen Mann“ umschreibt die Einheit von Glauben und Erkenntnis Christi. Dass hier vom „Mann“ statt vom „Menschen“ (so 2,15; 4,24; Kol 1,28) die Rede ist, legt sich vermutlich wegen des ethisch akzentuierten Gebrauchs der Wendung außerhalb des NT nahe (Sellin, 344); εἰς μέτρον ἡλικίας schließlich unterstreicht dies mit dem Bild des Lebensalters; es geht um das voll ausgewachsene Maß, in dem die Einheit des Glaubens an und in Christus bei allen erreicht ist. Nach 1,23 ist dieser Zustand zwar bereits eingetreten und gegeben. Aber er ist noch längst nicht bei allen „angekommen“ und erkannt. Die „Fülle des Christus“ muss sich im Aufbau der Kirche und auf die Welt hin noch durchsetzen.

Die implizite Mahnung, sich nicht von jeder Lehre hin und hertreiben lassen und orientierungslos auf trügerische Machenschaften und „fake news“ von Menschen hereinzufallen, zielt auf die positive Aussage: Als Unmündige wären die Adressaten ohne Orientierung der Täuschung ausgeliefert; als solche, die sich an Christus orientieren, leben sie jedoch in der Wahrheit und der Liebe. Die Wendung „in der Liebe“ findet sich auch in 1,4; 3,17; 4,2.15; 5,2 und stellt ein grundlegendes Motiv des Eph dar (4,2.15 rahmen den Abschnitt mit dem Liebesmotiv ein) und gelten für das christliche Leben in jeder Hinsicht. Die Vorstellung von Christus als Haupt knüpft wieder an den Leib-Gedanken an (vgl. 1,22f.; 4,15f. u.ö.). Dass die Glieder des Leibes auf das Haupt hinwachsen, verdankt sich der philosophischen Lehre vom Logos, der an der Spitze der Ideenpyramide steht und zugleich alle geistigen Wesenheiten umfasst; diese Lehre hat ihren materialen Hintergrund in der kephalozentrischen Medizinschule, derzufolge sich der ganze Leib von Gehirn und Kopf her entwickelt und von hier aus ernährt und zusammengehalten wird. Darauf nimmt abschließend V. 16 Bezug. Wie der ganze Leib vom Gehirn genährt (ἐπιχορηγέω), gesteuert wird und wächst, so wird die Kirche von Christus her genährt, gesteuert und wächst auf ihn hin (vgl. 1,21). ἐξ οὗ am Anfang und εἰς οἰκοδομὴν am Ende rahmen den Satz gewissermaßen ein.

5. Theologische Perspektivierung

Der Eph spricht von der Kirche mit Hilfe verschiedener Bilder.  Sie wird als Leib Christi bezeichnet (vgl. 1,22f.; 4,15f.; 5,23.29), als Bau (2,20f.), als Tempel (2,19-22), als Braut (vgl. 5,22-33). Die ikonischen Aussagen entsprechen der grundlegenden Intention des Briefes: Der Verfasser ist nicht in erster Linie an der konkreten Ordnung und institutionellen Verfassung der Kirche interessiert (deshalb bleiben die in V.11 genannten Ämter im Andeutenden), sondern an ihrem Wesen und ihrer Bedeutung.  

In 4,11-15 sind die Vorstellungen vom Leib Christi und vom Bau miteinander verbunden (vgl. V. 12, der Leib soll erbaut werden). Zur Kirche als Leib Christi gehört die Vorstellung von der Vielfalt und Verschiedenheit der Glieder, die von Paulus (1Kor 12,12ff.) vorgegeben, hier aber nur ansatzweise aufgegriffen ist. Wichtig ist der Zusammenhalt der einzelnen Glieder; dementsprechend heben die medizinischen Fachbegriffe in V. 16 vor allem die Verbindung der einzelnen Körperteile hervor. Zentrale Bedeutung aber kommt dem Haupt des Leibes zu, von dem aus der ganze Leib überhaupt erst existiert, genährt wird und wachsen kann. Die Sonderstellung des Hauptes (hinter der die kephalozentrische Schule der antiken Medizin steht) ermöglicht auch die (von Kol übernommene) Vorstellung, dass der Leib auf das Haupt hinwächst. Diese Dynamik ist auch bei dem Bild von der Kirche als Bau zu erkennen, die hier, anders als in 1,23, nicht als fertiges Gebäude, sondern als im Aufbau befindlich gedacht wird, auf Christus hin. Dazu bekommt die Kirche von Christus alles, was sie braucht, nicht zuletzt in Gestalt derer, die Gründungs- und Leitungsaufgaben wahrnehmen (V. 11) und dafür sorgen, dass die Kirche zum „Maß der Fülle Christi“ gelangt. Dass dieses Ziel mit dem Bild des „vollkommenen Mannes“ umschrieben wird, hängt mit der antiken Vorstellung vom erwachsenen Mann als Idealbild des Menschseins zusammen (häufig verbunden mit der Unmündigkeit als Gegenbild). Die erfahrbare Kirche vor Ort hat ihren Wesenskern in der von Christus geschaffenen Versöhnung (4,10), an die sie glaubt, von der her sie lebt, an der sie jetzt schon Anteil hat und an der sie sich handelnd orientiert (Eph 4-6). Deshalb strebt sie fortdauernd nach der Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes (4,1-6.13). Dieses großartige Bild von der Kirche vermittelt eine Vision, die den (auch in der dritten christlichen Generation nach wie vor) kleinen christlichen Gemeinden im großen römischen Reich eine Perspektive gibt, die das alltägliche Leben und Erleben übersteigt und ihm darin zugleich Orientierung gibt (wo lauert Irrtum, was dient der Wahrheit und der Liebe, was fördert das „Wachstum des Leibes“?).

Literatur:

  • Sellin, Gerhard: Der Brief an die Epheser, KEK, Göttingen 2008.

B) Praktisch-theologische Resonanzen

1. Persönliche Resonanzen

Die Aufnahme der Verse 7-10 mag im ersten Moment „verblüffen“, da die Konzentration auf die Gabe den Fokus von der individuellen Ekklesiologie in Richtung auf die Christologie (Aufstieg und Abstieg) zu verschieben scheint. Es liegt näher, die Verse 1-6 und 16 aufzunehmen, da sie motivisch – in vollkommener Einheit sowie in Christus bemessener Gabe bzw. Kraft – mit der vorgesehenen Predigtperikope Eph 4,11-15 verklammert sind. Sieht man genauer hin, so ergeben sich über den Himmelfahrtsgedanken (Aufstieg/in die Liebe hinwachsen) sowie die Rechtfertigung (Gabe/Kraft) vielfältige Verbindungen zwischen den Versen 7-10 sowie 11-15.

Von nicht unerheblicher Bedeutung scheint mir, dass der Verf. des Eph. in V. 13-14 weder konkrete Gegner im Fokus hat noch bestimmte inhaltliche Lehren inkriminiert, sondern sich allgemein gegen Personen wendet, die andere täuschen, um sie in die Irre zu führen. Dieser Befund dürfte dadurch unterstrichen werden, dass es sich bei πρὸς τὴν μεθοδείαν um ein (Quasi-) Hapaxlegomenon handelt, wie die negativ konnotierte Wendung „Verführung zum Irrtum“ unterstreicht. Da das Schreiben als zirkuläres Rundschreiben eingeordnet wird (Einführung), und auch ein Vergleich mit Kol 2,9 eine Entschärfung der Vorlage nahelegt, werden spezifische Aktualisierungen des Textes denkbar. In der Predigt können aktuelle, individuelle, aber auch politische Täuschungsmanöver zur Sprache gebracht werden. Man kann sich über sich selbst täuschen, mit einer Lüge leben. Man kann andere täuschen oder zu täuschen versuchen. Man kann aber auch mit alternativen Fakten, Geschichtsklitterungen oder -verdrehungen, wie es gegenwärtig Diktatoren oder politisch (noch nicht) gewählte Möchtegerndiktatoren unternehmen, legitime, regelbasierte Ordnungen und Gesellschaften nicht zerstören, aber erschüttern.

Von erheblicher Bedeutung dürfte zugleich die Akzentuierung einer konstruktiven Zugangsweise zu der vom Eph. entfalteten andersartigen bzw. fort entwickelten Ekklesiologie sein. Es sind weniger die Verweise auf den Aufbau des Leibes Christi (V. 12) als vielmehr das „Hinwachsen“ zu Christus als dessen Haupt (V. 15.16), das die Besonderheit der Vorstellung des Eph. kennzeichnet. Der Einzelne hat Teil an diesem Hinwachsen, um in besonderer Weise der Einheit des Glaubens, der Erkenntnis des Sohnes Gottes, der Reife der Fülle des Christus (V. 13), Wahrheit und Liebe (V.14.16) gewärtig zu sein.

Es wäre mir hilfreicher, wenn sich in der Übersetzung der „vollkommene Mann“ (V. 13) irgendwie ersetzen ließe. Die Neue Genfer Übersetzung (NGÜ) schlägt etwas frei vor, „dass wir alle…. zur vollen Einheit gelangen“. Es wäre zu überlegen, ob für die Predigt nicht eine das weibliche Geschlecht mit umfassende oder sogar eine genderneutrale Wendung gesucht werden könnte. Der Ersatz bzw. die Umschreibung änderte an dem Reife/Unreife bzw. Mündigkeit/Unmündigkeit als Aspekte des Glaubens gegenüber stellenden Zugang nichts. Ein Aussparen dieser etwas anstößigen Wendung ließe sich auch durch den Hinweis auf die vollkommene Erkenntnis als gemeinsame Erkenntnis begründen. Der Verweis auf den ethisch akzentuierten Gebrauch der Wendung außerhalb des NT (Sellin, 344) setzt demgegenüber eine homogene, patriarchalisch strukturierte Gesellschaft voraus, mit der man sich aktuell nicht identifizieren kann. Der Hinweis auf die philosophische Vorstellung des auf den Kopf zuwachsenden Leibes, der Rückgriff auf die kephalozentrische Medizin in V. 16, macht deutlich, dass die Verbindungen nicht vom Herz, sondern vom Kopf gesteuert werden. Er unterstreicht, dass der Zusammenhalt aller Teile für das Wachstum des Lebens wichtig sind. Im übertragenen Sinn weist er auf die Orientierung an Christus hin.

2. Thematische Fokussierung

In Aufnahme der weniger appellativen als vielmehr implizit mahnenden Haltung bzw. Forderung des Textes, sich nicht von jeder Lehre hin und hertreiben lassen und orientierungslos auf trügerische Machenschaften und „fake news“ von Menschen hereinzufallen, kann es darum gehen, das Positive gezielt auf die Neujustierung von Christen zu beziehen, die sich langsam zu Mündigen entwickeln. Ob die organisierte Kirche, so wie wir sie kennen, noch weiter bestehen wird, ist ungewiss. Von größerer Bedeutung ist, dass die Idee, die der Bildung von Kirche als Gemeinde zugrunde liegt, sich zunehmend Bottom up verwirklicht. Einzelne religiöse und nicht-religiöse Gemeinschaften bilden sich, in denen Menschen miteinander solidarisch sind: Caring Communities treten an die Stelle der hergebrachten Kirchengemeinden. Die Fürsorge, das Caring, werden ermöglicht durch die Gabe Christi, die sich „in der Liebe“ manifestiert. Die Verse 7-10 bieten mit ihrer Akzentuierung der Gabe als Geschenk eine Metapher an, die sich gut in die neue Situation der Gemeinde einfügt. Nach Pfingsten, nach der Geistausgießung, wird noch einmal daran erinnert, dass Christus mit seinem Leiden, Sterben und Auferstehen die Voraussetzung dafür gelegt hat, dass andere ihm nachfolgen können. Diese Nachfolge erfolgt als Hinwachsen zum Haupt.

3. Theologische Aktualisierung

Der Hinweis auf den Gabecharakter lässt sich u.U. mit paulinischen Vorstellungen zur Rechtfertigung vergleichen, die er allerdings weniger differenziert als Paulus ausarbeitet und eigentümlich fort entwickelt. Wenn Christus als Herrscher über allem „den Menschen Gaben gegeben“ hat, so erscheint die Voraussetzungslosigkeit der Gnade hier in einem doppelten Sinne christologisch fortgeführt. Christi Aufstieg ermöglicht die Übereignung der Zugehörigkeit zu Gott in der Taufe, die hier nicht als solche, sondern als professionelle Zurüstung der Gläubigen durch Apostel, Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrer erscheint. Zugleich ist die Gabe, die den Menschen übereignet wird, Grundlage und Ermöglichung der Beziehung zu Gott.

4. Bezug zum Kirchenjahr

Kirchenjahreszeitlich rahmt der Text das Pfingstfest ein, indem er einerseits Christi Aufstieg an Himmelfahrt voraussetzt, andererseits nach den Folgen fragt, die die Ausgießung des Geistes (Verteilung der Gaben durch Christus) für jedes einzelne Glied der Kirche ergibt. Die in der Gemeinde vor Ort erfahrbare Kirche basiert auf der in Christus geschaffenen Versöhnung, die sie sich selbst in der Gemeinschaft neu strukturiert. An Pfingstmontag wird deutlich, was sich aus dem Pfingstfest in das gemeinschaftliche Leben der Gläubigen dauerhaft mit hinüber nehmen lässt: Das Streben nach Einheit des Glaubens sowie die Erkenntnis des Sohnes Gottes in seinem vorgängigen Handeln (Aufstieg). Das zwischen Himmelfahrt und Pfingstmontag platzierte Bild von der an das Handeln des Auferstandenen gebundenen Kirche vermittelt eine Vision, die nicht nur den kleinen christlichen Gemeinden im großen römischen Reich eine Perspektive gibt, sondern auch das alltägliche Leben und Erleben übersteigt und ihm darin zugleich Orientierung gibt. Diese Vision könnte auch angesichts schrumpfender Gemeinden im 21. Jahrhunderts neue Hoffnung stiften, indem sie eigene Impulse vermittelt: Was fördert das „Wachstum des Leibes“?

Wenn es diesen Text nicht gäbe, so fehlte der Versuch, ein Deutungsangebot für die Übereignung des Zuspruchs Gottes ohne jede Voraussetzung zu schaffen. In der Gegenwart ist es vermutlich der Blick auf Christus, der an dieser Stelle weiterführt. So geht es nicht etwa darum, bestimmte Hierarchien, Ämter und Aufgaben voneinander abzugrenzen, oder in spezifischer Weise aufrecht zu erhalten. Die Aussage ist vielmehr: Christus selbst hat diese Ämter (und damit alles Notwendige) „gegeben“, damit alle Christen für ihren Dienst ausgerüstet und befähigt werden. Der gemeinsame Dienst zielt auf den Aufbau des Leibes  (V. 12). Und an dieser Stelle ist die aktuelle Situation zu bedenken: Nicht die Kirchenleitungen, auch nicht die Ortspfarrerinnen und -pfarrer geben die Gestalt von Gemeinschaft vor. Jeder Einzelne wird daran erinnert, dass es in seiner ihm geliehenen Macht und Verantwortung steht, sich für Andere und somit für die Gemeinschaft einzusetzen.

5. Anregungen

Die Predigt sollte den Versuch unternehmen, sich den Folgen der Botschaft des Pfingstereignisses zu widmen. Die durch Christi Auf- und Abstieg ermöglichte Hinwendung zum Nächsten ist im Gabecharakter seines Geschenks verdichtet. Zugleich wird davor gewarnt, die Gemeinschaft zu leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Vor diesem Hintergrund bietet sich in der Predigt die Perspektive eines Zeugnis ablegenden Geschichtenerzählers an. Der Prediger entfaltet im Durchgang durch Auf- und Abstieg die christologische Rahmung von Pfingsten (seit der Himmelfahrt) narrativ. Es liegt nahe, in einer Predigt zu ergründen, wie der Verf. des Epheser von der Zugehörigkeit zur Kirche in Folge der Gemeindewerdung durch den Heiligen Geist erzählt, und sich zu fragen, ob und wenn ja, welche Funktion der Heilige Geist für uns heute übernimmt. Dabei wird von dem Heiligen Geist auch metaphorisch zu reden sein. Zugleich ist darauf hinzuweisen, dass die Berufung auf den Heiligen Geist nicht von der eigenen Verantwortung dispensiert. Charismatische Fundamentalismen wären entsprechend in Frage zu stellen. Das eigene Handeln respondiert vielmehr auf den Gabecharakter des Geschenks. Es bringt die Zugehörigkeit zur Gemeinde durch den Einsatz für Andere zum Ausdruck.

Was fördert das Wachstum des Leibes? Welche Initiativen gibt es in meinem Umfeld, die meine Gemeinde verändern können? Welche Aktivitäten von kirchennahen oder kirchenfernen Personen fallen mir ein, die ich in meiner Predigt als mögliche Folgen des Pfingstereignisses aufgreifen kann?

Autoren

  • Prof. Dr. Peter Müller (Einführung und Exegese)
  • Prof. Dr. Antje Roggenkamp (Praktisch-theologische Resonanzen)

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